den 8. 2. 1924
Lieber Freund Karl!
Dein Brief vom 18. Januar, es ist der Tag der Reichsgründung, erreichte mich gestern Abend, und da ich gerade ein Viertelstündchen Zeit habe und in den nächsten Tagen doch nicht dazu komme, möchte ich ihn gleich beantworten. Die Angelegenheit mit Deinem Bruder betrachte ich als erledigt und bitte, Dich darüber nicht weiter aufzuregen, denn ich bin ja nicht weiter alteriert und wollte mich nur Dir gegenüber rechtfertigen. Die Hauptsache ist ja mein gutes Gewissen und meine Bereitwilligkeit, Dir gegenüber jederzeit gefällig zu sein, und wenn Du mich für die Folge statt zu „bitten“ zu irgend etwas „aufforderst“, geschieht es jedesmal mit Vergnügen, denn es ist doch selbstverständlich, dass man sich gegenseitig gefällig ist, wo man nur kann.
Für Deine Bemühungen betreff St. Francisco-Adressen danke ich Dir verbindlichst. Antworten der betreffenden Firmen sind bis jetzt noch nicht da.
Sehr leid tut es mir, aus Deinem Brief zu ersehen, dass Ihr jetzt auch schlechte Zeiten durchmachen müsst. Aber ich hoffe gerne mit Dir, dass die Revolution nach Ankunft dieses Briefes beendet ist, denn die Zeitungsnachrichten lassen erkennen, dass durch das Eingreifen Amerikas die Ruhe doch wieder hergestellt werden wird. Im übrigen ist es ja leider Tatsache, dass die ganze Welt in politischer und zum Teil auch wirtschaftlicher Beziehung auf den Kopf gestellt ist. Was wir hier augenblicklich erleben, schreit zum Himmel und es ist nur sehr gefährlich, alles brieflich so zu schildern, wie man es auf dem Herzen hat. Eine unbefugte Zensur kann grosse Unannehmlichkeiten bringen (Gefängnis und Ausweisung).
Erfreut war ich gestern ausserordentlich, in den „Hamburger Nachrichten“ zu lesen, dass sich die Deutschen, speziell die Rheinländer und Pfälzer, in Mexiko in einer Eingabe an den amerikanischen Präsidenten gewendet haben, um bezüglich des Rheinlandes und der Pfalz Hilfe von Amerika zu erflehen. Es freut mich dies umsomehr, als ich wohl vermuten darf, dass Du an der Sache nicht ganz unbeteiligt bist. Nach den neuesten Nachrichten, die heute die Zeitungen bringen, scheint England doch stark zu bleiben, nachdem der engl. Generalkonsul Clive sein Material in der Pfalz selbst gesammelt hat. Unser Volk ist augenblicklich in tiefster Not und an der ganzen Tragödie ist das Traurigste, dass die Mehrzahl der Deutschen, die in ihrem Untertanenverstand kein politisches Verständnis haben, die Motive dieser Tragödie nicht erkennen wollen, weil sie tatsächlich zu feige dazu sind. So wird weiter gewurstelt und alle Arbeit hilft nichts, solange die Parteien und Parteiengrüppchen wie Kegel- und Kartengesellschaften für sich egoistische Politik treiben. Es ist notwendig, dass die ganze Welt etwas ethischer denken lernt im Sinne jenes Christentums, das Jesus gelehrt hat und nicht derjenigen Religion, die in diesem Weltkriege so furchtbar Fiasko gemacht hat. Der liebe alte Gott war bei jedem unserer Feinde sowohl wie bei uns selbst der erste Bundes- und Kampfgenosse. Er sollte England strafen, Frankreich vernichten und uns den Frieden bringen und alles ist umgekehrt gegangen. Man hat sogar von Seiten christlicher Pfarrer den Krieg und den Mord verherrlicht, und der Krieg ist doch nichts weiter wie ein grosses Morden, ein Morden, wie es die grössten Bestien nicht besser vollbringen können. Ich habe für mich, der ich immer gerecht und wahrlich christlich trotz meiner jüdischen Abstammung dachte und handelte, das Gefühl, dass es mit unserer Jugend, soweit sie nicht in das nationalsozialistische Fahrwasser kommt, doch besser wird.
Es gibt natürlich in dieser Beziehung sehr viel Arbeit. Namentlich in der Schule. Dort muss angefangen werden, wenn nicht die ganze Kultur Europas zu Grunde gehen soll. Ich kann Dir nachfühlen, wenn Du angesichts all dieser Verhältnisse auf einer entlegenen Insel als Einsiedler leben möchtest. Aber das geht einmal nicht. Der einzelne Mensch muss in sich selbst die verdammte Pflicht fühlen, mitzuhelfen, das wieder auszubauen, was Unglaube, Sittenlosigkeit, Raub- und Geldgier vernichtet haben. Im Grossen und Ganzen genommen, war der Weltkrieg weiter nichts als ein Geschäftskrieg für Grossindustrie und Hochfinanz. Es wurde überall gesündigt. Deutschland wollte allerdings den Krieg im August 1914 nicht, hat aber doch an der Nichtverhinderung desselben ein gerüttelt Maß von Schuld, allerdings das Volk nicht, sondern nur der wahnsinnige Kaiser Wilhelm II. –
Und nun Schluss für heute. Mit den besten Grüssen, auch von meiner Familie, an Dich und die Deinen, verbleibe ich
Dein alter Freund
A. Fröhlich