Karl Reichert wurde am 14. Januar 1873 als erstes von fünf Kindern des Mathias und der Katharina Reichert, geb. Hogenmüller, in Kaiserslautern geboren. Der Vater war bei der Bahn angestellt und bewohnte das Haus Zollamtstrasse 1, das heute nicht mehr steht. Sein Großvater Matthäus Reichert war Küfer und Bierbrauer. Die mündliche Familiengeschichte überliefert, daß er seine eigene Brauerei beim Spiel verlor.
Nach dem frühen Tod seiner Frau heiratete der Vater Cecilie Alverdes (ein in Thüringen geläufiger Familienname), und Karl Reichert bekam vier Geschwister. Er besuchte das Humanistische Gymnasium bis zur Mittleren Reife, zuerst drei Jahre in Saargemünd, dem damaligen Arbeitsplatz des Vaters, nach dessen Versetzung dann in Kaiserslautern. Danach begann er bei der Kaiserslauterer Großhandelsfirma Ottmann 1890 eine kaufmännische Lehre. Dort lernte er den ein Jahr älteren Adolf Fröhlich kennen.
Von Kaiserslautern über Düsseldorf nach Mexiko
Beide verließen zum Jahr 1894 den Betrieb. Karl Reichert war beim Besuch eines Mitarbeiters der Firma Wuppermann & Co aus Düsseldorf aufgefallen und war auf der Stelle abgeworben worden. „H. Julius Albert ist Chef obiger Exportfirma W & Co, die Eisenwaren (Säbel, Nägel, Schrauben, Messer, Emaillewaren etc) nach Guayana, Columbia & Venezuela exportiert“, berichtete Reichert 1895 an Fröhlich in Kaiserslautern, und weiter: „Außerdem kauft H. Albert aber auch unter seinem Namen Seidenwaren, Litzen, Tressen, Fächer, Agréments, Nadeln usw für sein Haus Julio Albert y Co sucs. in Mexico ein und sendet dieselben herüber. Die beiden Geschäfte sind in einem Lokal zusammen, und man arbeitet einmal für W & Co und einmal für Jul. Albert, wie man Zeit hat“ (17/1/1895). Nachdem er sich etwas in den internationalen Handel, den die Firma führte, eingearbeitet hatte, wurde er nur ein Jahr später, am 11. Februar 1895 nach Mexiko geschickt um in der Firma Julio Albert y Cia Suc. zu arbeiten. Er war gerade 22 Jahre alt.
Ein Jahr später, im November 1896, bereiste Harry Graf Kessler (1868–1935) Mexiko. In seinen ,Notizen über Mexico’ gibt er den Eindruck wieder, den die Stadt Mexiko auf ihn machte: „Das Auge empfindet zuerst von der Stadt nur die Gewalt der Farben und des tropischen Lichts in der Höhenklarheit. Daneben verschwindet die Eintönigkeit des Stadtplans, den noch die vizeköniglich spanische Beamtenschaft im papierenen Stil geradwinklig reguliert hat, und auch die nordamerikanische Häßlichkeit der Telegraphenstangen auf den Trottoirs und der Trambahnen, die hier nicht nur den Verkehr des Publikums vermitteln, sondern es unternommen haben, in besonderen, schwarz gestrichenen Wagen zu billigen Preisen Leichen zu befördern. Die Menschenmenge, die alles farbig umflutet, die helle, rosenrote oder zartblaue Tünche der Häuser, um die das Licht beständig vibriert, die fernen Gletscher mit ihren bald mächtiger, bald nur blaß leuchtenden Firnen, und darüber ein Himmel, dessen Ton und Tiefe fortwährend wechseln, schaffen eine Bewegung von Farben und Reflexen, die wie ein Spiel das Auge beschäftigt“ (Kessler, S. 24).
Die Firma Julio Albert war von einem Deutschen gegründet worden und hatte auch eine Niederlassung in Berlin. Über die ausländischen Unternehmer berichtet Graf Kessler, mit der Arroganz des Europäers: „Weil also der Einheimische mit wenigen Ausnahmen weder den Wunsch noch die Gabe besitzt, einen komplizierten, auf langsamen und dauernden Erwerb gerichteten Betrieb zu leiten, liegen die großen und alle wichtigen Unternehmungen in der Hand von Ausländern, die mit ihrer eigenen Heimat in näherer wirtschaftlicher Verbindung als mit Mexico stehen. So fließt der größte Teil des Kapitals, das sich aus den Hilfsquellen des Landes bildet, nach außen ab“ (Kessler, S. 40). Reichert fiel es nicht leicht am Anfang, denn später gestand er: „Nach einigen Wochen war ich der Idee, daß es ein schweres sein würde, meinen 3-jährigen Contract auszuhalten & wenn man mir damals gesagt hätte, ich würde es 32 fertig bringen, so hätte ich ihn wohl ausgelacht“ (11/3/1927).
Sehr bald, im Juli 1899, heiratete Reichert, im April 1900 kam sein erste Kind – Carlos – auf die Welt, ihm folgte 1901 die Tochter Blanca. Von seiner Frau Manuela Kopahl lebte er nach der Geburt der Zwillinge Franz und Albert 1902 getrennt. Eine Scheidung war nach mexikanischem Gesetz zu dieser Zeit nicht möglich. Die Schwester seiner Stiefmutter, Hedwig Alverdes, kümmerte sich um die vier Kinder und besorgte den ganzen Haushalt. Sie war wohl nicht nur Erzieherin und Haushälterin, sondern stand Reichert persönlich sehr nah. Später erhielt sie von Reichert auch Generalvollmacht im Falle einer krankheitsbedingten Verhinderung Reicherts.
1906 unternahm Reichert eine Reise nach Kaiserslautern und traf sich auch mit Fröhlich. Nach dem 1. Weltkrieg schrieb dieser ihm: „Denkst Du noch daran, als wir bei Deinem letzten Hiersein mit Ludwig am Hohenecker Weiher abends gemütlich bei einer Flasche Wein saßen und Pläne für die Zukunft schmiedeten! Alles ist ins Wasser gefallen. Aber trotzdem heißt es Kopf hoch im Interesse des Vaterlandes und unserer Familien“ (1/11/1919).
1910 dachte Reichert, 37 Jahre alt, schon ans Aufhören: „Länger als diese fünf Jahre will ich unter gar keinen Umständen arbeiten, wenn nicht unvorhersehbare Geschichten einen Strich durch die Rechnung machen“ (8/11/1910). In Mexiko war er sehr engagiert, besonders in der Deutschen Schule, in deren Verwaltungsrat er saß: „Ich übernahm mein Amt, als die Schule in großer Gefahr war, in Folge finanzieller Nöte zu stranden und mit viel Mühe gelang es mir, sie wieder flott zu machen. Aus diesem Grund verlieh mir die Reichsregierung den Orden“ (4/4/1911). Bis zum ersten Weltkrieg war er außerdem Deutscher Konsul für Costa Rica.
Revolution
Mexiko war ein vorrevolutionäres, autoritär regiertes Land, als Reichert dort angekommen war. Porfirio Diaz regierte Mexiko mit Unterstützung der katholischen Kirche, den Großgrundbesitzern und mit ausländischem Kapital. Graf Kesslers Beobachtungen gelten auch für die Europäer: „Die Nordamerikanischen Einwanderer, die anfangen, Großbetriebe innerhalb des Landes hervorzurufen und für sich Eisenbahnen und Telegraphen, Bergwerke und Fabriken zu gründen, sitzen in Mexico nicht als Mitglieder der Volksgemeinschaft, sondern als mächtige mit allen Hilfsmitteln des neunzehnten Jahrhunderts ihre eigene Bereicherung verfolgende Einzelmenschen, sie sind eine Art von wirtschaftlichen Übermenschen […]“ (Kessler, S. 41). Das Entstehen von Großplantagen in ausländischem Besitz verschlechterte die Lebensbedingungen der kleinen Landbesitzer. Die fortschreitende Verelendung der mexikanischen Landbevölkerung führte 1910 zur Revolution. Sie zog sich bis 1917 hin. 1914, während der Aufstände, schrieb Reichert an Fröhlich: „Ich kann Dir sagen, daß ich es sehr bedauert habe, nicht vor einigen Jahren nach drüben gegangen zu sein. Statt schön zu verdienen, sitzt man nun hier und hat mehr Sorgen wie sonst was“ ( 2/6/1914). Auch nicht ansatzweise ist ein Schimmer von Verständnis für die Probleme des Gastlandes zu sehen.