MEXICO, 21. Mai 1929.
Mein lieber Freund Fröhlich!
Ich erhielt nach langer Unterbrechung Deine l. Zeilen vom 5. April und freute mich sehr, Gutes von Dir und Deiner Familie zu hören. Die allgemeinen Dinge drüben sind allerdings weniger lieblich und man fragt sich mit Bangen, wo das hin soll. Allzu viel Freiheit kann das sog. „Volk“ nicht vertragen, und ich betrachte es als einen grossen Fehler, sie ihm zu geben. Der Mensch ist auch eine Bestie und braucht einen Zügel. Wir sind in Deutschland zu schlapp. Wir hatten doch eine wirklich angenehme Freiheit früher. Aber heutzutag REDET man nur davon und missbraucht sie. Anderwärts ist das gerade so. Was fabelt man Alles von Freiheit z.B. in den Vereinigten Staaten und dabei darf man da nicht einmal ruhig ein Glas Bier trinken. Je mehr ich diese Sauwirtschaft der modernen Ideen ansehe, desto weniger Geschmack finde ich daran. Du wirst sehen, und wir werden es vielleicht noch erleben, dass eine schwere Reaction eintreten muss, denn es ist ein Scandal, in welch unglaublicher Weise man fast in allen Ländern darauf los saut.
In dem Jahresbericht des Gymnasiums, den mir der Herr Direktor freundlicherweise zugesandt hat, sah ich schon den Namen Deines Filius Franz und freue mich mit Dir, dass er sich so nett macht. Wenn Kinder wohl geraten, ist das eine wirkliche Freude. Möge es auch weiter so bleiben und den Eltern dadurch gedankt werden für Alles, was man doch mit den Kindern durchmachen muss. Vielleicht kommt er später einmal in die Gran Sederia oder einen unserer anderen Betriebe, wenn er Lust ins Ausland hat.
Ist Reiling wieder ganz auf dem Damm? Er ist mir noch gut erinnerlich trotz der langen Zeit, in der ich ihn nicht mehr sah. Darf ich Dich bitten, ihn von mir zu grüssen?
Neulich bekam ich auch eine Karte von Peter Wolff, die Lud. Lieberich und Hertzog unterschrieben hatten. Es freut mich immer, von den alten Bekannten zu hören.
Was hörst Du eigentlich von Ottmanns? Die Leutchen scheinen einen schweren Stand zu haben und sind den jetzigen Schwierigkeiten kaum gewachsen. Also Ende 1929 wirst Du frei sein von der übernommenen Verpflichtung? Ich bin begierig, zu hîören, was Du noch unternehmen wirst, meine aber auch, wenn Du genug zum Leben hast, solltest Du nicht mehr riskieren. Du hast wahrhaftig genug geschuftet, und Deine verschiedenen Ehrenämter geben Dir genug zu tun, um Dich nicht zu langweilen. Etwas Anderes wäre es, wenn Du als Direktor in eine Bank oder Ähnliches gingest. Ich glaube, da wärest Du auf dem richtigen Platz, brauchtest Dich nicht zu sehr anstrengen, und der Gehalt diente zur Complettierung der Zinsen Deines Vermögens. Ich dachte auch früher Ähnliches, aber ich kann aus unserem Betrieb überhaupt noch nicht heraus und strebe nur dahin, es mir etwas leichter zu machen. Ich hoffe, im nächsten Jahre lässt es sich einrichten, nach Xalpamila zu ziehen, um dann meine Arbeitszeit von 10–4 (Uhr) anzusetzen mit 1/2 Stunde Mittagspause. Ich brauche 25 Minuten mit dem Auto bis zum Geschäft. Dann hätte ich Morgens und Nachmittags noch etwas von dem herrlichen Garten. Ich habe noch manches verschönern lassen, und die Geschichte sieht jetzt wirklich fein aus. Im April war ein Reise-Redacteur von SPORT IM BILD hier, der eine Weltreise macht. Er war so entzückt von Xalpamila, dass er um Fotografien bat, um in der genannten Zeitschrift einen Artikel über „Das Märchenschloss bei Mexico“ zu bringen. Es passte mir nicht recht, denn solche Dinge machen mir keine Freude, aber er drängte darauf, und ich konnte es nicht verhindern. Er kann ja schliesslich schreiben, was er will.
Ist Dir zufällig eine Frau Graeser, Hebamme, bekannt? Der Sohn ist Schauspieler in Newyork und kam hierher, um deutsche Vorstellungen zu arrangieren. Das gelang ihm nicht, und er sass ohne Mittel hier. Er wollte sich erschiessen und bat mich, ihm nach Newyork zu verhelfen. Ehrenwort, Fussfall, Tränen etc. Aber angeschmiert wurde ich doch, denn er hat nie wieder was von sich hören lassen. Ich habe allerdings schon recht viele solche Sächelchen erlebt und meinen Glauben verloren. Man sollte sich immer sagen: Lieber als hart gelten, als sein Geld so zu verpulvern, um allen möglichen Lumpen zu helfen. Aber schliesslich kann Niemand aus seiner Haut heraus.
Crusius hat mit seiner Offerte sehr lange gebraucht und dann auch viel Zeug offeriert, wofür ich kein Interesse habe. Ich habe (bei) ihm aber einige Pfälzer Romane bestellt, damit er sich nicht ganz unnötig bemüht habe. Inzwischen hatte ich Gelegenheit, hier recht nette Sachen aus 2. Hand zu kaufen, weil der Betreffende verkaufen musste.
Hier sieht es wenig lieblich aus. Schon seit der Ermordung Obregons setzte eine allgemeine Unsicherheit ein, die ein schlimmes Stagnieren zur Folge hatte. Der Ausbruch der Revolution hat die Krise sehr verschärft, und wenn auch Calles der Geschichte schnell Herr wurde, so sieht es doch wenig schön aus. Wir hatten grosse Lieferungscontracte gemacht und müssen sie abnehmen, während die Verkäufe sehr niedrig sind und der Geldeingang ganz unzureichend. Zwischen dem Eisenwarengeschäft, Rückstände der Debitoren und Warenplus haben wir gegen August 1928 fast 1 1/2 Millionen Pesos MEHR, und die Activ-Seite der letzten Bilanz weist 4 Millionen Pesos auf, für unsere jetzigen Verkäufe also ein Zustand, bei dem nichts verdient wird. Dabei ist es nicht leicht, den Zauber wieder auf diese Zustände umzustellen, und ich kann Dir sagen, ich bin seit Monaten gar nicht auf Rosen gebettet. Aber man muss in einem solchen Land immer ein wenig Stehauf-Männchen sein, sonst „fressen Eem die Gens“!
Anbei einige Marken für Franz. Braucht er keine zum Tauschen? Ich schicke ihm sehr gerne welche.
Ich selber sammle immer noch flott und rechne jetzt nicht mehr, wieviele ich habe (es sind wohl so an die 45 000), sondern wieviele mir noch fehlen. Das sind nämlich nur 200. Aber das sind böse Brüder, die sehr schwer zu bekommen sind.
So nun habe ich reichlich getippt. Strenge Dich auch an und schreibe mir bald wieder. Inzwischen sei herzlich gegrüsst von
Deinem alten Freund
C. Reichert